Digitale Transformation zwischen sinnlosen Jobs und Purpose Economy

Die Zahlen der kürzlich veröffentlichten XING-Gehaltsstudie 2019 sind ein klares Statement: 62 Prozent der Arbeitnehmer in der Schweiz würden für mehr Sinn im Job ein geringeres Gehalt akzeptieren. Überdies wäre jeder Zehnte bereit, für eine Arbeit mit gesellschaftlicher Relevanz den Arbeitsplatz zu wechseln. Das legt den Schluss nahe: In den Unternehmen kann es nicht länger weitergehen wie bisher.

Dem Anthropologen David Graeber zufolge gibt es viele Jobs, deren Sinn sich den Menschen kaum noch erschliesst. Ausserdem verkommen klassische Jobs heimlich zu Bullshit-Jobs, wie Mathias Binswanger, VWL-Professor an der FH Nordwestschweiz und PD an der Universität St. Gallen, Graebers Buch „Bullshit-Jobs“ auf ZEIT ONLINE kommentiert. Nach einem Bericht auf dem Portal Karrierebibel spricht Graeber von einem Anteil sinnloser Jobs in Höhe von bis zu 37 Prozent. Die Bullshit-Jobs ordnete er in fünf Kategorien ein. Demnach fallen darunter unter anderem Tätigkeiten von Arbeitnehmern, deren einzige Aufgabe darin bestehe, möglichst zuvorkommend den Status anderer durch ihre Existenz zu dokumentieren. Aber auch „Arbeiten“, bei denen sich Menschen mit der Lösung von Problemen beschäftigen, die gar nicht existieren dürften, zählen dazu. Weitere Jobs bestehen darin, Aufgaben an andere zu delegieren oder die Tätigkeiten eines Unternehmens zu dokumentieren, um es zu legitimieren.

Ökonomische Notwendigkeit

Mathias Binswanger führt als Beispiel an, dass Ärzte und Pfleger zunehmend weniger Zeit für ihre eigentliche Arbeit am Patienten haben. Stattdessen müssen sie kodieren, dokumentieren, kontrollieren und überwachen. „Wissenschaftler verbringen ihre Zeit vermehrt damit, Projekte zu akquirieren, Anträge und Berichte zu schreiben. Und auch die Forschung selbst entwickelt sich in Richtung Bullshit. Es geht um die Zahl der Publikationen und Projekte, aber nicht mehr um den Inhalt, der sich immer öfter als irrelevant herausstellt.“ Kurz: „Bullshit-Jobs werden zunehmend zu einer ökonomischen Notwendigkeit.“

Die Tätigkeiten, so Mathias Binswanger, entstehen zu einem grossen Teil aus den Herausforderungen, welche die steigende Komplexität moderner Wirtschaften an die Erwerbstätigen stellt. „Bei Staat und Firmen heisst das: Man braucht mehr Organisation und Regulierung, Koordination und Controlling, Evaluation, Zertifizierung, Weiterbildung, Beratung, Forschung, Coaching und sogar Therapie. Daraus entwickeln sich dann viele Tätigkeiten, die wir als Bullshit-Jobs empfinden.“ Als ein Exempel führt er die gestiegene Anzahl der Rechtsanwälte in Deutschland zwischen 1990 und 2018 von 46.933 auf 164.656 an.

Sinn verhilft zu mehr Erfolg

Auch wenn viele Jobs gut bezahlt werden, zwingen sie Menschen zu Präsentismus und machen krank. Wer 20 Jahre lang mit einer distanzierten oder ablehnenden Haltung zur Arbeit gehe, könne nicht gesund bleiben, erläutert Arbeitspsychologe Theo Wehner in einem Interview auf ZEIT ONLINE. Das ist seit Langem nicht nur bekannt. Es gibt auch eine Entwicklung, die sich als Gegentrend bezeichnen lässt: Purpose, was so viel wie Sinn der Existenz/Zweck bedeutet. „Der Purpose-Trend kommt aus den USA, aus den Start-ups und Digitalkonzernen des Silicon Valley, die Hippiekultur und Sinnsuche mit Konzernen und Kapitalismus gekreuzt haben“, berichtet DIE ZEIT. 1995 entstand das Beratungsunternehmen BrightHouse, das Unternehmen dabei unterstützt, ihren Purpose zu entdecken. Immer mehr Firmen kommunizieren diesen heute. Immerhin belegen nach Angaben des Web-Portals Golem unzählige Studien, „dass sinnbehaftete Unternehmen langfristig finanziell erfolgreicher sind, auch die börsengelisteten Quartalszahlen-Lieferanten.“ So lasse sich ein Grossteil der Tech-Unicorns „vom Heiligenschein des Purpose leiten“. Und nicht nur dieser. Für etablierte Unternehmen ist die digitale Disruption ganzer Industrien durch digitale Geschäftsmodelle ein klassischer Auslöser geworden, sich mit der Sinnfrage zu beschäftigen. Gäbe es so etwas wie das Business-Wort des Jahres, hätte „Purpose“ 2018 gute Chancen gehabt. Autor Aaron Hurst, der das Phänomen in seinem 2014 veröffentlichten Buch „The Purpose Economy“ beschreibt, glaubt, dass die Sinnökonomie innerhalb der nächsten 20 Jahre die Informationsgesellschaft ablösen wird, so das Wirtschaftsmagazin Capital.

Führungskräfte in der Verantwortung

„Doch leicht ist es nicht, diesen Sinn zu finden“, wie im Handelsblatt erklärt ist. Ausserdem zählen am Ende vor allem Taten. Damit zweckgetriebene Unternehmen maximal erfolgreich sein können, kommt es auch auf das Know-how sowie die Persönlichkeit der Führungskräfte an. „Der Managementexperte und Autor Jim Collins sieht die Verantwortung für den Purpose stark in den Führungspositionen. Wer es schaffe, höheren Sinn, menschliche Empathie und Gewinnermentalität zu vereinen … habe zweifelsohne mehr Erfolg“, so Golem.

Nicht zuletzt legt die Generation Y enorm grossen Wert auf sinnhafte Arbeit. Der XING-Studie zufolge ist jedem Dritten der befragten 35- bis 45-Jährigen Sinn wichtiger als Geld. Sie sind es, die die Zukunft der Unternehmen gestalten. Die Besetzung von vielen offenen Schlüsselpositionen mit den Ypsilonern steht unmittelbar bevor, wie im Blogbeitrag „Generation Y – die nächsten Chefs fragen nach dem Warum“ erläutert ist. Es wird also höchste Zeit, sich mit dem Sinn der Arbeit auseinanderzusetzen – trotz der zitierten zunehmenden ökonomischen Notwendigkeit von Bullshit. Wer diesen erledigt, dafür hat Theo Wehner einen sinnvollen Vorschlag. Seiner Meinung nach sollten Maschinen solche Aufgaben übernehmen.

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