Kommunikation und Digitalisierung: Wie viel Effizienz ist zu viel?

Die Anzahl digitaler Tools, die einfacheres und effizienteres Arbeiten als bisher versprechen, wächst und damit auch deren Nutzung. Doch gleichzeitig gibt es zahlreiche digital erschöpfte Mitarbeiter. Ihr Stress bleibt auf einem Rekordhöchststand, wie das Marktforschungsinstitut Gallup herausfand. Ursächlich dafür ist die Art zu arbeiten. Geschäftsprozesse werden schneller, Innovationszyklen kürzer und der Zeitdruck steigt. Gleichzeitig wird die Kommunikation von Angesicht zu Angesicht auf das Nötigste reduziert, berichtete HR Today. Doch wo wird Effizienz warum zu viel und was bedeutet das für Entscheider?

Ein Kernpunkt: Die Digitalisierung hat dazu geführt, dass „viele Angebote bestehende Vorgehensweisen nicht abgelöst, sondern bestenfalls ergänzt haben“, erläuterte Anja Rassek im Portal Karrierebibel. Ein Beispiel sind Tools zur Aufgabenplanung und zum Aufgabenmanagement, die gerne inflationär eingesetzt werden, um Absprachen unter Mitarbeitern, insbesondere an verteilten Standorten, zu ersetzen. Sie sind jedoch nach Meinung von Produktivitätscoach Ivan Blatter nicht als To-do-Listen geeignet, wenn jemand viele Aufgaben hat. Entweder werde das Board dann sehr unübersichtlich oder es werden mehrere Boards benötigt und die Verzettelungsgefahr steige. Hinzu kommt: „Zeitmanagement kostet Zeit“, so die Organisationsberatung Buschmann Liss. Es ist demotivierend, wenn die Anzahl der Tasks trotz emsigster Arbeit zunimmt und nicht zuletzt bedeuten Projektmanagement-Software sowie Messenger gemäss Karrierebibel nicht nur selbstbestimmtes Arbeiten. Viele empfinden damit auch Leistungsdruck und soziale Kälte.

Multitasking – eine Falle

Dies geht damit einher, dass nur noch wenige Arbeitnehmer eine Stellenbeschreibung mit genau definierten Aufgaben haben. „Sie sollen vielmehr im Team vorgegebene Ziele erreichen“, berichtete HR Today. Also seien sie von der Zuarbeit von Kollegen abhängig und müssen häufiger auf deren Anliegen reagieren. Entsprechend schwer können sie ihren Arbeitstag planen – speziell dann, wenn sich die Zielvorgaben oft wandeln. Häufig erledigen sie mehrere Aufgaben parallel. Dieses Multitasking koste Konzentration, produziere Stress und Fehler. Weiterhin gebe es nach anstrengenden Veränderungsprojekten keine Pausen mehr. In den meisten Unternehmen laufen „so viele, sich überlappende Change-, Innovations- und Transformationsprojekte parallel, dass das sogenannte Multi-Projekt-Management sich zu einer neuen Schlüsselkompetenz entwickelt hat.“

Auch die Mitarbeiterführung erfolge oft digital – per E-Mail, Chat, Online-Meetings oder gleich über das Einstellen von Aufgaben in ein Projektmanagementtool – meist ohne Erklärungen und ohne Feedback. Der Trend zu offenen Bürostrukturen, der sich Karrierebibel zufolge vor allem bei Start-ups beobachten lässt, verbessert die Situation nicht. Die Mitarbeiter seien den ganzen (Arbeits-)tag umeinander herum. Dies erfordere ein viel höheres Mass an Konzentration und führe geradewegs ins Multitasking. Denn wenn man mit zehn, zwanzig Kollegen in einer offenen Bürolandschaft sitze, klingele immer ein Telefon, laufe jemand vorbei. Kopfhörer helfen nicht wirklich, da Menschen aus dem Augenwinkel dennoch Bewegungen wahrnehmen. „Die digitalen Errungenschaften führen dazu, dass wir jederzeit mitbekommen, ob eine neue Mail eingeht, eine Whatsapp-Nachricht geschickt wurde oder ein Kollege einen neuen Kommentar zum Projekt hinzugefügt hat.“ Irgendwann werde all das zu viel.

Digitale Information bedeutet Arbeit

In diesem Zusammenhang lautet eine Schlüsselerkenntnis: „E-Mails, Nachrichten und Social Media-Beiträge sind digitale Arbeit, egal ob wir sie im Büro oder nach Feierabend erledigen – sie erfordern dieselben kognitiven Fähigkeiten. Jede SMS, jede E-Mail leert unseren mentalen Tank und erschöpft uns auf die gleiche Art und Weise“, wie in einem Beitrag von Antonia Götsch, Chefredakteurin des Harvard Business Managers, zu lesen ist. So komme es, dass sich selbst eine Textnachricht wie ein Mühlstein anfühlen könne. Abends fühle sie sich „leer getextet, leer gechattet, leer gezoomt“.

Beim derartigen Reduzieren der zwischenmenschlichen Kommunikation auf wechselseitige Information wird HR Today zufolge Wichtiges übersehen. „Denn es macht einen qualitativen Unterschied, ob man nur die Mail einer Person liest oder ihr gegenübersitzt, ihr in die Augen schaut, ihre körperlichen Reaktionen wahrnimmt und hierauf reagiert. Das schafft eine andere Qualität der Beziehung sowie des wechselseitigen Verstehens; ausserdem eine höhere Verbindlichkeit. Deshalb ist es kein Zufall, dass bei der digitalen Kommunikation viel häufiger Konflikte entstehen und eskalieren.“ Komme die persönliche Kommunikation zu kurz, fühlen sich Mitarbeiter weniger wertgeschätzt, können sich weniger als Ganzes in die Organisation einbringen und weniger mit ihr identifizieren, Erfahrungslernen werde erschwert, Flow-Erlebnisse im Team werden vereitelt und Konflikte werden nicht oder auf dem falschen Weg ausgetragen. Die Produktivität sinke.

Das Unerwartete toppt Effizienz

Damit das Gegenteil des ursprünglich Beabsichtigten nicht eintritt, sind alle gefordert, einem Zuviel an Effizienz vorzubeugen. Ein erster Schritt besteht nach Aussagen von Antonia Götsch darin, wahrzunehmen, wie viel Energie ständige Meetings, Calls und Chat-Diskussionen kosten. Dann lässt sich gegensteuern, etwa durch bewusste Entscheidungen, was wie digital oder im persönlichen Kontakt kommuniziert wird. Dies impliziert eine angemessene Nutzung von Tools – nicht so viel wie möglich, sondern so viel wie erforderlich. Das kann auch bedeuten, nicht permanent alles im Blick zu behalten. „Die beste App für Produktivität heisst ,Flugzeugmodus‘“, gab Organisationsberater Martin Liss zu bedenken. Denn Arbeit werde nicht effizienter oder besser, nur weil eine ultraschicke App ständig nerve. Am Ende des Tages gehe es ums Machen und das brauche Fokus.

Vor allem Führungskräfte sind gefordert. Denn sie sind für die Rahmenbedingungen verantwortlich. Sie sollten darüber nachdenken, wie sie bei einer weitgehend virtuellen Zusammenarbeit die für den Beziehungsaufbau wichtige informelle Kommunikation fördern, so ein Tipp von HR Today. Sie müssten sich fragen, wie sie eine neue Balance zwischen Verändern und Bewahren, An- und Entspannung sowie betriebswirtschaftlichen Erfordernissen und menschlichen Bedürfnissen schaffen. Allem voran sollten sie Menschlichkeit ins Spiel bringen, um Mitarbeiter zu begeistern, wie im Blogbeitrag „Urlaub: Zeit, um aus der Effizienzfalle auszusteigen“ dargelegt ist. Dafür wiederum müssen sie Identifikationsfiguren sein, Vertrauensanker, Wertgaranten, Kommunikationsturbo und Talentmagnet. Dabei sollten sich Vorgesetzte der Reihe nach zu Vordenkern, Vorreitern sowie Vorbildern entwickeln, wie Frank Dopheide in seinem Buch „Gott ist ein Kreativer – kein Controller“ beschrieben habe. Führungskräfte müssen das Unerwartete zurückholen, das Unlogische, Spielerische und etwas Neues von Wert schaffen. Denn das Unlogische bringe oft einen strategischen Vorteil. Aus dem Industriezeitalter stammende Effizienzpraktiken hingegen werden im gegenwärtigen Zeitalter von Innovation und Disruption „zu Bremsklötzen in der Entwicklung“. Haben Sie also Mut zu weniger Effizienz!

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Autor: Jasmine Grabher