Unternehmen mit Psychologen sind kein Fall für die Couch

„Fünfzig Prozent der Wirtschaft sind Psychologie.“ Diese Aussage wird Ludwig Erhard, dem ersten Wirtschaftsminister der Bundesrepublik Deutschland, zugeschrieben. Heute ist sie aktueller denn je, auch in der Schweiz. Wie gut sich eine Führungskraft mit Psychologie auskennt, hat massgeblichen Einfluss auf ihre Produktivität und insgesamt ihren Erfolg, erläutert etwa Buchautor und Coach Volkmar Völzke. Doch was bedeutet das für Unternehmen? Sollen sie nun Psychologen anstellen, externe Unterstützung suchen oder gar selber „auf die Couch“?

Dass Psychologie im Berufsleben so bedeutend ist, liegt darin begründet, dass Erfolg zum grössten Teil dadurch bestimmt wird, inwieweit andere Menschen verstanden sowie beeinflusst werden können. „Und das geht halt nicht ohne Psychologie“, schreibt Volkmar Völzke. Führungskräfte nehmen dabei eine besonders wichtige Rolle ein. Denn: „Eine Führungskraft muss unter anderem motivieren, delegieren, kontrollieren, Stabilität vermitteln, Veränderungen anstossen, individuelle Entwicklung fördern und Entscheidungen durchsetzen. All diese vielfältigen Aufgabenfelder und noch einige mehr muss eine Führungskraft bewältigen und dabei die unterschiedlichsten Persönlichkeiten in ihrem Team mitnehmen“, begründet Dr. Ronald Franke, Geschäftsführer der LINC GmbH.

Wirtschaftspsychologie ist der Schlüssel

Um diese Aufgaben erfolgreich zu erledigen, sind zahlreiche Herausforderungen zu meistern. So sollten nach Aussagen von Dr. Ronald Franke Ansprache, Motivationsstrategien und der Umgang mit Fehlern auf die individuelle Persönlichkeit der Mitarbeiter abgestimmt sein. Gleichzeitig müsse sich die Führungskraft ihrer eigenen Persönlichkeit bewusst sein und wissen, in welchen Bereichen sie den Anforderungen entgegenkomme und wo nicht. „Führen heisst: mit Menschen arbeiten, Interaktionen zielgerichtet und kooperativ managen, Einfluss nehmen, Komplexität bewältigen und nicht zuletzt die eigene Führungsrolle aktiv gestalten“, formulieren Thomas Steiger und Eric Lippmann im „Handbuch Angewandte Psychologie für Führungskräfte“.

Der Schlüssel, um diese Ziele zu erreichen, liegt in der Wirtschaftspsychologie. Sie ist Teil der angewandten Psychologie und unterscheidet sich von der klinischen Psychologie. Sie beschäftigt sich mit dem subjektiven Erleben und dem Verhalten von Menschen im ökonomischen Umfeld sowie den sozialen Zusammenhängen. So zählen laut Wikipedia unter anderem folgende Aufgaben zur Wirtschaftspsychologie: Coaching, Training und Weiterbildung, Marketingberatung, Marktforschung, Vertrieb und Verkauf, Werbung und Marktkommunikation, Organisationsentwicklung, Changemanagement, Personalauswahl, Personalentwicklung und Unternehmensberatung. Führungspsychologie gilt als eigenständiges Teilgebiet der Wirtschaftspsychologie, ebenso wie beispielsweise die Organisationspsychologie.

Kandidaten mit einschlägigen Kompetenzen gefragt

Das heisst, dass Führungskräfte sowie Mitarbeiter in den verschiedenen Abteilungen über entsprechende psychologische Kenntnisse verfügen sollten. Immer mehr Verantwortliche in Unternehmen erachten dies als wichtig und legen bereits beim Recruiting Wert darauf. Dementsprechend haben Wirtschaftspsychologen in den nächsten zehn Jahren sehr gute Berufschancen. Dr. Ulrich Hössler, Studiengangsleiter Wirtschaftspsychologie im Fernstudium an der Hochschule Fresenius, formuliert in einem Interview, dass Wirtschaftspsychologen „immer gefragter, wichtiger und einflussreicher werden.“ Das bedeutet für Unternehmen allerdings nicht, dass sämtliche Kandidaten zwangsläufig ein Vollzeitstudium in Wirtschaftspsychologie absolviert haben müssen. Vieles lässt sich auch auf anderen Wegen erlernen, zum Beispiel durch Literatur, ein berufsbegleitendes Fernstudium oder Seminare. Zahlreiche Anbieter unterrichten etwa „Psychologie für Führungskräfte“. So können auch eine Weiterbildung und Interesse an dem Thema Hinweise auf entsprechende Kenntnisse sein, die sich mit einer gezielten Förderung einfach ausbauen lassen und die Kandidatenvielfalt erhöhen.

Ausweg aus kurzfristigen Managementkonzepten

Passen dazu die anderen Anforderungen, schaffen Unternehmen und Organisationen eine solide Grundlage für erfolgreiche Stellenbesetzung. Denn Führungskräfte mit psychologischen Kompetenzen sind sich ihrer Rolle und ihres Wirkens bewusst. Zudem verstehen sie andere Menschen weitreichend. Sie gehen konstruktiv mit Konflikten sowie Kritik um und beeinflussen Verhalten positiv. Dem Unternehmen gelingt es, die von Dr. Ulrich Hössler thematisierte „Wirtschaftsumgebung zu gestalten, die eine möglichst reibungslose, effektive und effiziente Kooperation zwischen Menschen ermöglicht, die Interaktion zwischen Menschen und technischen Systemen verbessert, die Motivation, Zufriedenheit und Gesundheit aller Beteiligten erhält und deren Potenziale optimal nutzt“. Diese wird in der durch die Megatrends Digitalisierung, Flexibilisierung und Globalisierung noch komplexer werdenden Wirtschaftswelt zunehmend unverzichtbar. Denn es trifft zu, was der Experte feststellt: „Simple und kurzfristige Managementkonzepte wie Hire and Fire, autoritärer Führungsstil oder höhere Bezüge bei erhöhtem Leistungsdruck, die jahrzehntelang einigermassen funktionierten, greifen da nicht mehr.“

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Autor: Roger Nellen