Digitale Resilienz braucht ein Loslassen und ein Festhalten

Die Belastung im Job steigt. Der Anteil gestresster erwerbstätiger Personen hat sich dem Job-Stress-Index 2018 der Gesundheitsförderung Schweiz zufolge auf 27,1 Prozent erhöht. Dies hängt unmittelbar mit der digitalen Transformation zusammen, wie eine Online-Umfrage der Akad Hochschule in Stuttgart und eine von der Böckler-Stiftung veröffentlichte Befragung von Erwerbstätigen zu Belastung und Beanspruchung durch Arbeit mit digitalen Technologien belegen. Das bedeutet: Immer mehr Menschen und Unternehmen beschreiten diesen Pfad.

Wie es dazu kommt, erläutern die Untersuchungen ebenfalls. So ist in der Handelszeitung unter Berufung auf die Online-Umfrage der Akad Hochschule dargelegt, dass die ständige Erreichbarkeit, die Flut von E-Mails und die Präsenz auf Social Media dazu führen, „dass nicht mal die Hälfte aller Beschäftigten konzentriert arbeiten kann“. Bei den digitalen, interaktiven Tätigkeiten müssen sich Menschen mit zahlreichen Informationen und Netzwerken auseinandersetzen. Dies überfordere den Einzelnen schnell, weil er mit viel Arbeit wenig erreiche.

Probleme in den Niederungen des Alltags

Für die geringere Produktivität verantwortlich seien auch Probleme der Mitarbeiter beim Umgang mit Schnittstellen, nicht digitalisierte Prozesse und technische Schwierigkeiten. „Digitalisierte Arbeit ist störungsanfälliger“, heisst es in einem Bericht der Süddeutschen Zeitung zu einer Studie der Gewerkschaft Verdi. „Wo die Digitalisierung schon weit fortgeschritten ist, klagen 62 Prozent der Befragten darüber.“ Organisationsberaterin Beate Schulze bringt die Situation gemäss Handelszeitung mit folgenden Worten treffend auf den Punkt: „An unzähligen Kongressen und Events wird die digitalisierte, Silicon-Valley-mässige Zusammenarbeit zelebriert. In den Niederungen des Alltags manifestiert sich dieses Mantra aber dann in abgestürzten Datenbanken, endlosen Schulungen und Meetings sowie unzähligen Mails und Chats“. Dennoch steigt das Arbeitspensum, da Mitarbeiter dank neuer Technologien von überall arbeiten können.

Darüber hinaus ist besonders interessant, dass es auch eine Rolle spielt, wenn der Digitalisierungsgrad des Arbeitsplatzes nicht zu den Kompetenzen der Arbeitnehmer passt, so die Hans-Böckler-Stiftung. „Erst das Ungleichgewicht zwischen den Fähigkeiten im Umgang mit digitalen Technologien und den Anforderungen, die diese an Arbeitnehmer stellen, sorgt für digitalen Stress.“

Kompetenzen müssen zu Anforderungen passen

Digitaler Stress führe zu einer deutlichen Zunahme der gesundheitlichen Beschwerden. Mehr als die Hälfte der Arbeitnehmer mit hohem digitalen Stress leide unter Rückenschmerzen, Kopfschmerzen und allgemeiner Müdigkeit. Dies verringere die berufliche Leistung, die Arbeitszufriedenheit sowie die Bindung an den Arbeitgeber. Von daher kommen Unternehmen, die auch in Zukunft wettbewerbsfähig bleiben wollen, nicht umhin, dieser Art von Stress entgegenzuwirken und die digitale Resilienz zu stärken – sprich: die psychische Widerstandsfähigkeit gegenüber Krisen und die Fähigkeit, diese zur persönlichen Entwicklung zu nutzen, bezogen auf den digitalen Bereich.

Die Erkenntnisse aus der Studie der Hans-Böckler-Stiftung legen dafür Massnahmen nahe, um ein Gleichgewicht zwischen den individuellen Kompetenzen und den Anforderungen durch Digitalisierung herzustellen. Das beinhaltet die richtige Personalauswahl genauso wie es die Vermittlung und den Erwerb von Kompetenzen im Umgang mit digitalen Technologien und in der Bewältigung von digitalem Stress einschliesst, einen massvollen, individuell optimierten Einsatz digitaler Technologien, die Bereitstellung von Support sowie das Design und den Einsatz verlässlicher Technologien. Konkret bedeutet das: Mit dem Besuch von einem der vielen auf dem Markt angebotenen Seminare ist die Arbeit nicht getan.

Das Mindest als Basis für Widerstandsfähigkeit

Vielmehr gilt es, systematisch vorzugehen – zum Beispiel zunächst den Istzustand ganzheitlich zu analysieren, um Entwicklungsbedarfe hinsichtlich der Resilienz im Unternehmen zu identifizieren. Dies empfehlen die Forscher im Rahmen des Kooperationsprojektes „Starke Beschäftigte und starke Betriebe durch Stärkung der Änderungsfähigkeit mit Resilienz-Konzepten“ unter dem Dach des ifaa – Institut für angewandte Arbeitswissenschaft e. V. Danach sollte die Resilienz sowohl der Beschäftigten als auch der Organisation optimiert werden.

Wie dies funktionieren kann, zeigt unter anderem ein Bericht des Zukunftsinstituts zur Studie „Hands-on Digital“, die wiederum Unternehmen Hilfestellung gibt, ihren eigenen Weg in der vernetzten Wirtschaft zu finden: „Die wichtigste Voraussetzung für den Aufbau einer solchen Widerstandsfähigkeit – sowohl für einzelne Personen wie für das gesamte Unternehmen – ist ein systemisches Verständnis digitaler Dynamiken, ein ‚erleuchtetes‘ Mindset.“ Das bedeutet: Die Unternehmenskultur spielt eine zentrale Rolle.

Erfolgversprechende Kombination

Das Fundament liege in einem selbstbewussten Umgang mit Unsicherheit und Komplexität. Denn die Vorstellungen von Eindeutigkeit und Steuerbarkeit, die bis ins späte 20. Jahrhundert galten, seien obsolet. Unternehmen müssten mehr Beweglichkeit und Offenheit ermöglichen, mehr Spielräume öffnen, in denen Kreativität, Experimentierfreude und Innovation gedeihen können. Dieses kann dann wesentlich zu einer resilienzfördernden Arbeitsatmosphäre beitragen, wie sie im Beitrag „Widerstandsfähigkeit stärken rentiert sich“ beschrieben ist. Gleichzeitig gilt es, so das Zukunftsinstitut, an den richtigen Stellen Stabilität, Robustheit und Sicherheit zu gewährleisten sowie die eigene Identität zu schärfen. Das Loslassen und das Festhalten ergänzen und bedingen einander, wenn Unternehmen weder dem digitalen Darwinismus zum Opfer fallen noch richtungslos nur im Strom mitschwimmen wollen.

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Autor: Nicole Schmidt