Viele Unternehmen in der Schweiz haben Schwierigkeiten, Fachkräfte nach ihren Vorstellungen zu finden. Rund 90.000 klein- und mittelständische Firmen sind der Credit Suisse zufolge akut von Fachkräftemangel betroffen. In dem Masse, in dem qualifizierte Mitarbeiter knapp werden, steigen ihre Möglichkeiten, unter Arbeitgebern auszuwählen. Dies führt zu einem neuen Selbstbewusstsein, jederzeit gute Jobaussichten zu haben und zwingt Unternehmen zum Umdenken bei der Rekrutierung: Als Arbeitgeber befinden sie sich nicht mehr in der Position, Spezialisten mit einer Auflistung von Anforderungen aufzurufen, sich bei ihnen zu bewerben. Vielmehr sind sie gefragt, positive Anreize für Interessenten an Stellen zu schaffen und sich somit bei den Kandidaten zu bewerben.
Gute Tipps für die umgekehrte Rekrutierung, das sogenannte Reverse Recruiting, erhalten Unternehmen, wenn sie analysieren, warum Bewerber Jobangebote ablehnen. Die häufigsten Gründe dafür hat die Jobplattform Stepstone in einer Umfrage ermittelt. Demnach führten 72 Prozent der Befragten als Kriterium für eine Ablehnung des Stellenangebots nach dem Vorstellungsgespräch an, der Vorgesetzte habe keinen guten Eindruck hinterlassen. Knapp dahinter folgt mit 71 Prozent das Argument, dass das Gehalt nicht den Erwartungen entspreche. Auf Platz drei der Liste rangiert mit 66 Prozent der Nennungen das unehrliche Beschreiben von Arbeitsplatz und Unternehmen. Weitere Gründe liegen in fehlendem Verständnis mit den Gesprächspartnern auf persönlicher Ebene, darin, dass die Arbeitsinhalte nicht den Erwartungen entsprechen, die Arbeitsinhalte zu stark von der Jobbeschreibung abweichen, sich die Bewerber im Interview unter Druck gesetzt fühlten, ihnen der Arbeitsplatz oder Unternehmensstandort nicht zusagte und sie unvorbereitet einen Test oder eine Prüfung absolvieren sollten. Zudem zählte zu langes Warten auf den Gesprächspartner zu den für eine Absage ausschlaggebenden Argumenten.
Aus diesen Ergebnissen resultiert, dass sich potenzielle Mitarbeiter einen professionellen Vorgesetzten wünschen und ein Gehalt, das ihren Erwartungen entspricht. Sehr wichtig ist ihnen ausserdem, dass Arbeitsplatz, Unternehmen, die Stelle und die mit ihr verbundenen Aufgaben von Anfang an wahrheitsgemäss beschrieben werden. Sie bevorzugen eine angenehme Gesprächsatmosphäre, Respekt sowie persönliche Wertschätzung. Dies wiederum zeigt: Sich beim Arbeitnehmer zu bewerben, ist nicht in erster Linie eine Frage des Portals, in dem diese sich präsentieren, sondern eine Frage der Mentalität. Es geht darum, den Bewerbern auf Augenhöhe zu begegnen und eine für sie positive Erfahrung an sämtlichen Berührungspunkten mit dem Unternehmen zu schaffen.
Die derzeit unter dem Buzzword diskutierte Candidate Experience beginnt bei der Aussendarstellung des Unternehmens. Firmen, denen es gelingt, im Rahmen des Employer Branding einen hohen Bekanntheitsgrad mit einem positiven Image aufzubauen, haben bereits vor der direkten Ansprache einen Pluspunkt verbucht. Beim Kontaktieren der Kandidaten geht es dann darum, Respekt zu zeigen und jenen mit Ehrlichkeit zu unterstreichen. Das heisst auch, dass Unternehmen die Aufmerksamkeit der Kandidaten wertschätzen und zügig auf den Punkt kommen.
Der sich daran anschliessende Prozess, in dem der Kandidat sich vorstellt, sollte für diesen einfach und frei in der Wahl der Möglichkeiten gestaltet werden. Dazu zählt, dem Kandidaten in einem angemessenen Rahmen die Entscheidung für eine geeignete Darstellung seiner Person zu überlassen. Den Postweg muss heute niemand mehr zulassen, aber der Kandidat sollte die Option haben, eine E-Mail mit Anhang an das Unternehmen zu senden ebenso wie über soziale Netzwerke einen Link zu einem Video, in dem er sich präsentiert. Innovativen Spezialisten vorzuschreiben, gewünschte Daten in standardisierte Formulare einzutragen, damit das Unternehmen diese automatisch in Datenbanken speichern und filtern kann, wirkt kontraproduktiv. Ist die Nachricht des Kandidaten eingegangen, sollte er zeitnah, innerhalb von 48 Stunden, eine erste freundliche, persönliche Reaktion mit Auskünften über das weitere Vorgehen erhalten.
Kommt es zum Vorstellungsgespräch, gehört es zum guten Ton, dem Kandidaten im Vorfeld mitzuteilen, wen er trifft. So hat er die Chance sich vorzubereiten. Beim Termin selber ist eine professionelle, angenehme Atmosphäre wichtig. „Denn hier vermittelt das Unternehmen bereits einen grossen Teil seiner Kultur“, wie Roger Nellen, Geschäftsführer und Inhaber unserer Executive Search Boutique, im Artikel „Stark im ‚War for Talents‘“ im Schulthess Manager Handbuch erläutert. Pünktlichkeit, ein kurzer freundlicher Small Talk als Eisbrecher und das Anbieten von Getränken sollten selbstverständlich sein. Oberstes Gebot in einem Vorstellungsgespräch ist persönlicher Respekt. Dies bedeutet, den Kandidaten nicht als Bittsteller zu behandeln. Die Massgabe besteht darin, ein sachliches Gespräch zu führen, in dem Gemeinsamkeiten und Differenzen festgestellt werden. An dessen Ende stehen das Kommunizieren des weiteren Vorgehens sowie ein freundlicher Abschied.
Nach dem Interview sollten sich Unternehmen eine zeitnahe Reaktion verbunden mit einem Dank für die aufgebrachte Zeit auf ihre Fahnen schreiben – und zwar unabhängig von einer Zusage. Absagen gilt es respektvoll und persönlich zu kommunizieren, möglichst so, dass der Kandidat sich trotzdem wertgeschätzt fühlt. Diesem Verhalten liegt nicht das oft übliche Ziel zugrunde, sich von den Kandidaten, die für die Stelle nicht infrage kommen, auf Nimmerwiedersehen zu verabschieden, sondern den Kontakt zu ihnen aufrechtzuerhalten. Immerhin können die Kandidaten zum Beispiel für andere, vielleicht später vakante Stellen geeignet sein, den Bewerbungsprozess im Internet bewerten und so auf das Image des Unternehmens einwirken, oder sich eines Tages in Positionen befinden, in denen sie als mögliche Kunden oder Partner wertvoll sind. Erinnern sie sich dann positiv an das Unternehmen, kann dieses nur gewinnen.
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Autor: Jasmine Grabher